Rogate – oder: Mehr als Amen.

Der Text, mit dem wir es heute zu tun bekommen, zählt wohl zu den bekanntesten Texten der Bibel.
Vielleicht könnte man sogar so weit gehen und sagen: es ist DER bekannteste Text.

Millionen von Menschen auf dieser Erde kennen ihn – und sprechen ihn sogar regelmäßig: egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, auch der Wochentag spielt keine Rolle. Ganz gleich ob die Sonne scheint oder der Regen niederprasselt (sowohl im wörtlichen, wie auch im übertragenen Sinn).

Vielleicht hat es der eine oder die andere schon erraten, um welchen Text es heute geht.

Hören wir mal rein, ins Matthäusevangelium – ins sechste Kapitel.

"Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, um sich vor den Leuten zu zeigen. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.
Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.
Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.
Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. Darum sollt ihr so beten:
Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. [Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.]
Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben.
Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben."

Das Vaterunser.
93,8% der Deutschen kennen es. Damit landet es weit vor „Ich bin klein, mein Herz ist rein…“ und „Komm, Herr Jesu, sei du unser Gast…“

Es ist DER zentrale Text schlechthin. Das weit verbreitetste Gebet des Christentums.

In jedem Sonntagsgottesdienst wird es gebetet. Und dazu läuten die Glocken – damit auch die Daheimgebliebenen wissen: jetzt wird das Vater Unser gebetet. Und sie können sich dadurch einladen lassen, mitzubeten. Auch wenn sie nicht selbst dort sein können.

Und vielleicht kennen sie selbst auch das Gefühl – dieses besondere „Vater Unser-Gefühl“ beim Beten: das die Worte irgendwie von Selbst kommen. Kein großes Nachdenken, kein mühsames Überlegen welche Bitte denn jetzt als nächstes kommt. Die altvertrauten Worte, sie kommen fast wie von selbst – aus dem Herzen herauf springen sie in den Kopf und aus dem Mund.

Aber – warum eigentlich beten wir diesen Text? Immer und immer wieder?

Ich gebe zu – diese Frage habe ich mich auch das eine oder andere Mal gestellt. Im Sonntagsgottesdienst, bei Kirchenvorstandsandachten, im Konfi- und Schulunterricht.

Warum dieser Text? Warum immer und immer wieder?

Das war davor.
Vor der Krise.
Vor Ausgangsbeschränkungen.
Vor Gottesdienstverboten.

Die letzten Wochen waren für jeden und jede von uns schwierig oder zumindest anders – auf die ein oder andere Art und Weise. 

Der Alltag auf den Kopf gestellt.
Und irgendwie hat es sich angefühlt als wäre man zurückgeworfen: auf sich selbst.
Keine Zerstreuungen, um sich von sich selbst abzulenken.

Und am Anfang habe ich gedacht: gut, mache mal das Beste aus der Situation, jetzt die Zeit nutzen. Produktiv sein.
Endlich das machen, wozu sonst so wenig Zeit und Energie bleibt.
Und ich hatte mir auch Ziele gesteckt: nein, ich wollte keine neue Sprache lernen oder mir ein neues Hobby anschaffen.
Auch den Garten wollte ich nicht generalüberholen oder das Auto endlich mal so richtig auf Hochglanz polieren.

Ich wollte mehr beten. Für Kranke und Gesunde. Für Krankenhaus- und Supermarktmitarbeiter. Für Alleinerziehende und Großfamilien. Für Menschen in der Gemeinde, für meine Lieben und für mich selbst.
Einfach mehr beten.

Und ich habe es wirklich versucht.
Immer wieder.
Morgens, mittags, abends. Vor dem Schlafengehen. Nach dem Aufstehen. Am Mittagstisch, auf dem Sofa und der Terrasse.
Habe versucht Worte zu finden – und bin ganz oft daran gescheitert. Weil sich die Sprachlosigkeit nicht nur in meinem Alltag, sondern auch in meinem Herzen und in meinem Kopf breit gemacht hat.
Immer wieder habe ich es versucht – und immer wieder bin ich gescheitert. 

Und es hat mich verzweifelt zurückgelassen – wenn ich nicht mal das Zustande bringe, habe ich mich gefragt, was bleibt mir dann noch?

Und ich habe mich weggeflüchtet – in die Wortlosigkeit. In die Stille. Weg von meiner Verzweiflung. Und weg von mir selbst.

Hin zu einem Gebet, das mich entlastet. Entlastet davon eigene Worte finden zu müssen – solche, die mir eben nicht in den Kopf und über die Lippen gehen wollen.

Hin zum Vater Unser.
Hin zu den vertrauten Worten, die wie von selbst kommen.
Aus dem Herzen springen sie herauf, in meinen Kopf und in meine Mund.

Ich muss nicht kreativ sein, ich muss nichts leisten. Nicht in diesem Gebet. Nicht im Vater Unser.
Ich muss mich nur führen lassen.

Weg von mir selbst – hin zu Gott.

Weil es mich wegführt von mir – hin zu Gott.
Gott, er weiß, was ich; er weiß, was wir brauchen.
Er ist uns ohnehin näher, als wir es uns selbst sind.

Mit dem Vater Unser kann ich beten, obwohl ich eigentlich nicht beten kann.
Ich kann all die Hoffnung und Sehnsucht, all die Ängste und Sorgen hineinlegen – ohne Worte dafür finden zu müssen.
Ohne Gedanken bilden zu müssen.

Das Vater Unser kann ich beten. Immer.
Und bin einfach.
Und bin.
Amen.
 

Gebet

Ewiger Gott, wir danken dir, dass wir uns mit unseren Anliegen immer na dich wenden können.
Gib uns jeden Tag neu das dazu nötige Vertrauen.
Lass uns die richtigen Worte finden – für unsere Hoffnungen und Sehnsüchte, aber auch für unsere Ängste und Sorgen.

Wir hoffen darauf, dass deine Liebe die Welt verändert.
Verändere auch uns, damit wir deine Liebe in die Welt tragen.

Wir sehnen uns nach Gerechtigkeit und Frieden.
Hilf uns, dass wir deine Gerechtigkeit und deinen Frieden suchen und ihm nachjagen.

Wir haben Angst davor, dass das Leid und die Krankheiten nicht enden.
Heile du die Kranken und halte deine schützende Hand über die Leidenden.

Wir sorgen uns – um uns selbst, aber auch um anderen.
Mach du unsere sorgenvollen Herzen ruhig: für uns selbst, und für die Menschen, die in unserem Herzen sind.

Du rufst uns bei unserem Namen und kennst uns.
Du rufst und bei unserem Namen und siehst uns – wo wir auch sind: am Küchentisch, in der Kirchenbank, in unseren Kammern.

Auf dich hoffen wir – heute und an allen Tagen.
Amen.
 

Vater Unser

Vater unser im Himmel
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich
und die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit. Amen.
 

Segen

So segne und behüte dich der allmächtige und barmherzige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.
Amen.